Unglaublich aber wahr!

Ich war gerade einmal zehn Jahre alt und hatte eine schlimme Ohrenentzündung, als mein Vater sagte:
„Wenn Deine Großmutter noch leben würde, könnte die Dich schnell von Deinem Leiden befreien.“
Ich hörte auf zu Jammern und fragte: „Wieso?“
Mein Vater sagte:
„Die hat vielen Leuten geholfen und von allen möglichen Krankheiten geheilt.“

Ich war neugierig geworden und fragte: „Wie hat sie denn das gemacht?“ Er sagte: „Ganz einfach. Die Leute mussten immer zu einem bestimmten Zeitpunkt bei ihr sein. Sie ging mit ihnen in den Hof zum Brunnen und bestrich die erkrankten Stellen mit Wasser und sprach in einer unbekannten Sprache eine Art von Beschwörung. Das dauerte ungefähr zwischen acht und zehn Minuten. Dann hörte sie unvermittelt auf und sagte zu demjenigen: ‚In zwei oder drei Tagen ist alles vorbei und es wird nie wieder kommen.’“ Ich schaute ihn mit großen Augen an und fragte: „Bindest Du mir einen Bären auf und willst mich von meinen Schmerzen ablenken?“ Er sagte zu mir: „Nein, nein, das ist die Wahrheit, ich schwöre es Dir und Du kannst auch meine Brüder und Schwestern fragen“, also meine Onkel und Tanten.

Nach ein paar Tagen war ich wieder genesen und was mein Vater mir erzählt hatte, ließ mich nicht mehr los. Als dann eine Woche später sonntags meine Tante, die älteste Schwester meines Vaters zu Besuch kam, belegte ich sie sofort mit Beschlag und sagte: „Tante, Du musst mit mir in den Garten kommen, ich muss unbedingt mit Dir reden.“
Mein Vater zog die Augenbrauen hoch und sagte zu seiner Schwester: „Mach Dich auf etwas gefasst, das dauert etwas länger, aber sage ihm alles, was Du weißt, sonst gibt er keine Ruhe.“

Im Garten ging dann die Fragerei los. Sie fragte: „Wer hat Dir das alles erzählt?“ Ich sagte: „Mein Vater.“
Sie bestätigte mir dann, dass sei alles wahr, sie habe es oft miterlebt, wenn ihre Mutter die Beschwörungen machte und die Leute heilte. „Wir mussten als Kinder mindestens sechs Meter Abstand halten, und wehe, man kam einmal etwas näher, dann tobte sie sofort los: „Willst Du etwa krank werden?“, dann haben wir uns sofort zurück gezogen.“ erzählte sie.

Ich fragte meine Tante: „Wieso konnte sie das?“ Sie sagte dann: „Das war so: Die Mutter hat als junges Mädchen bei einem jüdischen Schriftgelehrten und Rabbiner gearbeitet, gekocht, geputzt und den Haushalt geführt, hat aber sehr wenig Geld für ihre Arbeit bekommen. Der Rabbi vertröstete sie und sagte zu ihr: „Wenn Du einmal weggehst von hier und heiratest, werde ich Dir etwas vermachen, dass Du immer Deine Familie ernähren kannst. Aber Du musst mir versprechen, nie Geld anzunehmen, nur Naturalien und Du darfst dies Wissen auch nie weitergeben. Wehe Du tust es, dann werden alle Deine Kinder und Kindeskinder erkranken und sterben.“

Meine Tante sagte: „Wir haben sie alle gefragt: „Mutter, wie machst Du das?“ aber sie hat es keinem verraten. Wir haben immer gehofft, weil ja Dein Vater der Jüngste war und das Nesthäkchen, vielleicht sagt sie es ihm einmal. Aber auch ihm hat sie es nicht verraten.“ Mein Vater war dabei, als meine Großmutter verstarb und sie sagte auf dem Sterbebett zu ihm: „Ich würde Dir gerne mein Geheimnis verraten, aber glaube mir, es würde Dir und Deiner Familie nur Unglück bringen. Auch habe ich bei Gott geschworen, es niemals zu verraten.“ Sie nahm dieses Geheimnis mit ins Grab.

Meine Tante erinnerte sich: „Wenn die Patienten weggingen, legten sie des Öfteren einen Geldschein irgendwo hin. Wenn die Mutter das dann sah, wurde sie sehr böse und wir mussten das Geld sofort wieder zurückbringen und sie sagte zu uns: „Wehe, es behält einer dieses Geld, dem werden die Hände abfaulen.“ Wahrlich, wir hätten das Geld oft dringend nötig gehabt, aber es war nichts zu machen, wir mussten es zurück bringen. Dafür bekamen wir von den Leuten Naturalien wie Wurst, Schinken, Käse, Fleisch oder Wein. Das durfte sie annehmen.“

Ich habe mir damals zum Ziel gesetzt, etwas herauszubringen, habe meine Onkel und Tanten schier zur Verzweiflung getrieben. Wenn die mich nur sahen, kam gleich der Satz: „Heute keine Fragen. Wir haben Dir alles gesagt, was wir wissen, also Schluss damit.“ 

Was ich so mit der Zeit herausgebracht habe war, dass die kranken Leute immer zur Großmutter kommen mussten, wenn eine Beerdigung stattfand. Beim ersten Ton des „Vater unser Läutens“ fing sie dann mit ihrer Beschwörung an und sagte zu den Leuten: „Die Ursache Deiner Erkrankung nimmt der Leichnam mit ins Grab und die Symptome verschwinden dann von selbst.“

Der damalige katholische Pfarrer sagte dann zu ihren Söhnen: „Eure Mutter spricht bei diesen Beschwörungen Aramäisch. Wo hat sie das gelernt?“ Es hat niemand die Worte verstanden, auch der Pfarrer nicht.

Ich habe damals noch einen älteren Mann, etwa an die 90 Jahre, ausfindig gemacht, den sie auch von seinem Leiden befreit hatte. Er hatte grauenhafte eitrige Ausschläge an den Armen und im Gesicht und er fragte auch gleich: „Kannst Du das auch, so wie die Kathrin?“ Nachdem ich dies verneinte, war die Unterhaltung erledigt.

Meine Mutter erzählte mir: „Als Du gerade einmal eineinhalb Jahre alt warst, hast Du andauernd geschrieen. Ich ging mit Dir zum Kinderarzt, der Dich untersuchte und sagte: „Der Bub ist kerngesund. Er hat ein paar Blähungen, das ist alles. Geben Sie ihm Fencheltee, dann wird das schon wieder.“ Meine Mutter dachte, ach, wenn der Kleine gesund ist, dann fahr ich einmal zur Schwiegermutter nach Seckenheim. Dort angekommen, fragte die: „Oh lieber Gott, warum schreit der Kleine so?“ Meine Mutter antwortete: „Ich war gerade beim Kinderarzt, der hat nur Blähungen.“ Meine Großmutter sagte: „Gib ihn mir einmal in die Arme.“

Sie legte mir dann ihre Hand auf den Kopf, schloss die Augen, stand plötzlich auf, gab mich meiner Mutter zurück und sagte: „Von wegen Blähungen, der Doktor muss verrückt sein.“ Sie ging dann zum Küchenschrank, holte ein Fläschchen heraus, schüttete etwas davon in ein Töpfchen und erwärmte es. Dann nahm sie mich wieder auf ihren Schoß, tropfte mir die Flüssigkeit in beide Ohren, stopfte etwas Watte darauf und sagte zu meiner Mutter: „In zwei bis drei Stunden nimmst Du die Watte heraus, dass das Sekret ablaufen kann und das wiederholst Du noch zweimal, dann ist der Kleine wieder in Ordnung.“
Als meine Mutter das erste Mal die Watte herausnahm, floss aus beiden Ohren der Eiter ab. Meine Mutter war entsetzt. Wieso hatte der Arzt das nicht gemerkt und wieso konnte meine Großmutter das feststellen? Sie hatte auch keine Erklärung dafür.

Mein Vater erzählte mir danach: „Bei manchen Menschen, die zu ihr kamen, die fasste sie an und zog plötzlich die Hände zurück und sagte zu ihnen: „Es tut mir leid, ich kann Ihnen nicht helfen.“ Wenn mein Vater sie später fragte: „Mutter, warum hast Du dem nicht geholfen?“, sagte sie: „Der kam zu spät. Dem kann nur noch Gott helfen, ich nicht mehr. Es ist so, wie es ist, und das ist gut so. Und jetzt lässt Du mir meine Ruhe.“

Sie sagte damals noch zu meiner Mutter: „Wenn der Bub mal so vier, fünf Jahre alt ist, dann werde ich ihn mir noch einmal vornehmen, sonst hat er immer Probleme mit den Ohren.“ Aber nach zwei Jahren ist sie leider verstorben. Und sie hat Recht gehabt: Ich habe bis heute in regelmäßigen Abständen immer Schwierigkeiten und muss den Ohrenarzt konsultieren.

Vielleicht gibt es jemand, der schon einmal Ähnliches gehört hat und weiß, wie das funktioniert haben könnte.

Willi Eck


In dem „Heimatbuch Leutershausen an der Bergstraße“ von Josef Fresin, fand ich folgenden kleinen Absatz:

„Das Brauchen“

Seit uralter Zeit war in ganz Deutschland das „Brauchen“ bekannt, d.h. kranke Personen wurden zu ganz bestimmten, dazu ausersehenen Männern oder Frauen gebracht, die den Kranken mit Wasser befeuchteten, einen geheimnisvollen Spruch murmelten und zugleich die drei höchsten Namen: Gott Vater, Gott Sohn, Gott Heil'ger Geist“ sprachen. Dieser Brauch wurde hauptsächlich gegen das Wildfeuer (Gesichtsneurose) angewandt.

In Leutershausen hat in den 70er  und 80er Jahren des 19. Jahrhunderts Margarete Beckenbach, geb. Simshäuser, Frau des Schneidermeisters Nikolaus Beckenbach, in der Rathausstraße diesen Brauch ausgeübt. Sie hat z. B. Bruchleidende dadurch zu kurieren versucht, dass sie ein frisch gelegtes Ei an die Bruchstelle drückte und dabei mehrere Worte sprach. Wenn jemand an fieberhafter Krankheit litt, ließ sie in der Küche ein Feuer anmachen, darüber ein weißes Hemd hängen und dieses als „Berauchtes Hemd“ dem Kranken zum Schwitzen anziehen, oder sie legte ihm den Strumpf des linken Fußes, gefüllt mit heißen Kartoffeln, um den Hals oder auf die Brust.

Einer dieser in Leutershausen üblichen Brauchsprüche gegen das „Anwachsen“ ist von Karl Zingräf im Weinheimer Geschichtsblatt 1924 veröffentlich worden. Man sollte nämlich das gefährdete Kind „unbeschrauen“ (d. h. ohne dass jemand etwas sagte) um das Tischbein heben und dreimal dabei sagen: „Bist du angewachsen an Brust und Rippen, so muss es weichen, wie das Jesuskindlein aus der Krippen.“

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